Von Joachim Paul
Israelis und Palästinenser sind tief gespalten bei der Bewertung israelischer Bautätigkeit auf militärisch erobertem, palästinensischem Gebiet. Für die große Mehrheit der Israelis handelt es sich insbesondere in Jerusalem um schlichten Wohnungsbau, für die Palästinenser ist es illegale Landnahme auch im 1967 besetzten Teil Jerusalems. Die internationale Gemeinschaft hat schon 2003 Israel in der so genannten Road Map for Peace, dem Fahrplan für den Frieden, aufgefordert, jegliche Bautätigkeit außerhalb der israelischen Grenze von 1967 sofort einzustellen, ohne dass dies bis heute geschehen wäre. Hinter dem Siedlungsstreit steht die zentrale Frage des Konflikts: Wer hat ein Recht auf das Land und wer darf sich rechtmäßig darin aufhalten.
Bereits am 14. April hatten zwei israelische Militärbeschlüsse den Konflikt um das besetzte palästinensische Westjordanland weiter eskalieren lassen. Mit einer Änderung des Militärbefehls zur „Verhinderung von Infiltration“ aus dem Jahr 1969 (No 2) werden potentiell Palästinenser in ihrem eigenen Land zu Eindringlingen und illegalen Ausländern erklärt. 1969 war das ursprüngliche Dekret als Maßnahme gegen das Eindringen militanter Palästinenser aus den arabischen Nachbarstaaten gedacht. Mittlerweile sollen Bewohner ohne israelische Aufenthaltsgenehmigung abgeschoben und nach Gaza oder ins Ausland deportiert werden. Es wird in erster Linie Palästinenser aus Gaza treffen, die in dem anderen palästinensischen Landesteil, dem Westjordanland, leben, inklusive ihrer dort geborenen Kinder. Aber auch Palästinenser aus Ost-Jerusalem sind betroffen, oder Menschen aus Drittstaaten, die aus familiären Gründen im Westjordanland leben. Nur wenige der 2,5 Millionen Menschen im Westjordanland besitzen Aufenthaltpapiere, ausgestellt durch „den Befehlshaber der israelischen Verteidigungskräfte in Judäa und Samaria“, wie es in dem Militärbefehl heißt, der die offizielle israelische Bezeichnung für das Westjordanland benutzt. Bis zum 14. April konnten Bewohner der besetzten Gebiete Ausweisungsbefehle des Militärs mit Hilfe des regulären israelischen Rechtssystems anfechten und damit weitgehend verhindern. Der gegenwärtige Änderungsbefehl unterbindet den Zugang zum Rechtssystem des demokratischen Israels und unterstellt die Aufenthaltsregelungen palästinensischer Bürger im Westjordanland gänzlich der Militärverwaltung.
Die neue Praxis widerspricht dem Abkommen von Oslo, das Freizügigkeit in den besetzten Gebieten vorsieht, ebenso wie dem Völkerrecht. Die vierte Genfer Konvention untersagt die Ausweisung von Zivilbevölkerung aus einem militärisch besetzen Gebiet, und als solche sind die palästinensischen Gebiete weiterhin anzusehen. Das israelische Militär übt weiterhin die völlige Kontrolle über alle Zugänge zu dem 40 Kilometer langen und 6 bis 14 Kilometer breitem Küstenstreifen in Gaza aus. Einzige Ausnahme sind die Schmugglertunnel nach Ägypten. Auch 80 Prozent des Westjordanlands unterstehen weiterhin direkter israelischer Sicherheitskontrolle, und selbst in den von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten Städten und Dörfern hat das israelische Militär Zugriffsrechte auf Personen, die – aus militärischer Sicht – die Sicherheit Israels gefährden.
Auch 16 Jahren nach seiner Unterzeichnung bildet das Abkommen von Oslo die Grundlage für eine Konfliktlösung im Nahen Osten: Dieses sieht die Gründung eines palästinensischen Staates innerhalb der jetzt von Israel kontrollierten palästinensischen Gebiete Ost-Jerusalem, Westbank und Gazastreifen vor. Vor diesem Hintergrund ist der Sturm der Entrüstung in der gesamten arabischen Welt zu bewerten. Die arabische Öffentlichkeit brandmarkt die geänderten Militärbefehle Israels als eine Politik, die eine „ethnische Säuberung“ vorbereiten soll, um das demographische Verhältnis zwischen Palästinensern und Israelis in den besetzen Gebieten nachhaltig zu verändern und damit eine Friedenslösung auf der Grundlage zweier Staaten zu unterlaufen. Aktuellen Schätzungen zufolge könnten einige zehntausend Palästinenser als illegale Eindringlinge klassifiziert werden. Die knapp 500.000 israelischen Siedler, die in dem 1967 besetzten Gebiet einschließlich Ost-Jerusalem leben, werden von den Ausweisungsbeschlüssen nicht betroffen sein.
Nicht nur die arabische Welt ist empört. Auch zehn israelische Menschenrechtsorganisationen haben den israelischen Verteidigungsminister Ehud Barak in einem öffentlichen Brief aufgefordert, das Inkrafttreten der Anordnungen zu verschieben. Der Militärbefehl ist jedoch als Anordnung der Militärverwaltung längst gültig. Während also die internationale Gemeinschaft und insbesondere die USA Druck auf die Konfliktparteien ausüben, von indirekten zu direkten Verhandlungen überzugehen, verschärfen die Militärbefehle, ebenso wie die konstanten öffentlichen Äußerungen über weitere Bautätigkeit in Ost-Jerusalem die ohnehin schwierige Lage im Nahen Osten weiter.
Dieser Beitrag erschien zunächst in der Fuldaer Zeitung in gekürzter Fassung.
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